Die Bewegung der Erde
Eine Betrachtung von Nico Kieses Projekt der „Vegetationsdeckentransplantation“ zwischen performativer und ökologischer Migration
Als transnationaler Austausch eines Quadratmeters bewachsener Erde ist die „Vegetationsdeckentransplantation“ von Nico Kiese gleichzeitig innerhalb von Performance, Konzeptkunst und Land Art zu verorten. In diesem fortlaufenden Projekt verpflanzt der Künstler kontinuierlich je einen Quadratmeter Wiese von einem europäischen Land in ein anderes. Durch den länderübergreifenden Austausch dieser Vegetationsplatten werden die Kategorien nationaler Herkunft, Identität und Grenzen innerhalb eines internationalen, ökologischen Prozesses hinterfragt.
In Kieses Werken wird besonders seine Auseinandersetzung mit den Themen Erinnerung und Geschichte wahrnehmbar. Er arbeitet oftmals mit Alltagsgegenständen und gefundenen Materialen, die individuelle Gebrauchsspuren aufweisen und somit eine Vorgeschichte in sich tragen, oder mit Material, das als Zeugnis natürlicher Prozesse fungiert, wie in seinem 2019 begonnenen Projekt der „Vegetationsdeckentransplantation“.
Kiese begann mit einem Quadratmeter Wiese, den er an seinem Wohnort in Deutschland ausstach, fuhr nach Luxemburg und setzte ihn dort im Austausch gegen ein neues Stück Boden ein. Den Luxemburger Quadratmeter brachte er nach Belgien, wo er wiederum ein gleiches Stück entnahm und dafür das mitgebrachte einpflanzte. Von dort setzte er bisher seine Reise nach Frankreich, Großbritannien und in die Niederlande fort. Die Standorte seiner Verpflanzungen sind dabei nicht rein zufällig gewählt, sondern beeinflusst durch geografische Besonderheiten, wie die Nähe zu Wasser oder durch zivilisatorische Prozesse veränderte Landschaften, sowie Flüchtlingsrouten und historisch bedeutsame Orte. Die verschiedenen Böden bringen jeweils andere Pflanzen- und Tierarten sowie Nährstoffe mit, die sich mit jenen vor Ort vermischen. Zunächst erscheinen die ausgetauschten Vegetationsplatten wie Ortsmarkierungen, sie passen sich jedoch über die Zeit zunehmend ihrer neuen Umgebung an, wodurch dieser ökologische Prozess des Austauschs und der Angleichung parallel zu Migrationsbewegungen gelesen werden kann.
Im Gegensatz zu Rasen ist Wiese eine natürlich bewachsene Fläche, die sich durch ihren vielfältigen Pflanzenbestand und Artenreichtum auszeichnet. Durch den Austausch der lokalen, bewachsenen Wiesenstücke werden diese jeweils Teil einer neuen Vegetation und unterliegen den Bedingungen ihres neuen Standortes. Auch wenn Kieses Arbeitsweise einem leisen Prozess gleicht, in dem der Künstler alleine reist und die Orte behutsam auswählt, kann die Transplantation als provozierende, radikale Geste in der Landschaft verstanden werden. Die Kunsthistorikerin Rosalind E. Krauss prägte den Begriff „Sculpture in Expanded Field“ für Kunstobjekte, in denen die Topografie des Ortes Teil des skulpturalen Systems ist. Kiese greift in verschiedenste Landschaften direkt ein, macht sie zu seinem künstlerischen Material und sprengt somit auch die herkömmliche Dimension eines Kunstwerkes. Vergleichbar mit bekannten Werken der Land Art, ist auch für Kiese der Einfluss der Natur mit ihren sich verändernden Witterungen und Temperaturen ein wesentlicher Faktor, der die Dynamik und Prozesshaftigkeit dieses Werkes betont. Für die Ende der 1960er-Jahre in den USA entstandene Kunstbewegung war neben dem landschaftlichen Bezug meist eine minimalistisch angelegte Konzeption sowie eine gesellschafts- und institutionskritische Komponente charakteristisch. Kieses Projekt entzieht sich gleichermaßen nicht nur dem Kunstmarkt, sondern ist als Sinnbild für die Migration des Menschen und die Bedeutung von territorialem Eigentum höchst politisch. Die „Vegetationsdeckentransplantation“ führt vor Augen, wie ein simples Stück Wiese ebenso zu einem streitbaren Objekt mit nationaler Aufladung werden kann.
Die implantierten Quadratmeter Erde sind insofern ephemere Kunstobjekte, als dass sie irgendwann aufgrund von natürlichem Wachstum und temporären Veränderungen nur noch als Erinnerungen existieren, als künstlerisches Konzept in der Dokumentation erkennbar sein werden. Kiese hält seine performativen Handlungen jedoch ausführlich mit geografischen Koordinaten und in Form von Videos und Fotografien auf der Website blog.nicokiese.com fest.
Text von Madeleine Freund